Mein persönlicher Mount Everest - ich habe mir einen Mantel genäht!

Inzwischen ist der Mantel schon seit einigen Wochen fertig und macht sich im Alltag wunderbar. Gut, dass es nächste Woche wieder kalt wird, denn bei über 0°C ist der Mantel zu warm! Aber ich erzähle die Geschichte am Besten von Anfang an.

Der Mantel bei seinem ersten Einsatz
Im Herbst letzten Jahres habe ich festgestellt, dass ich einen Wintermantel brauche. Für bis zu 0°C habe ich Kleidung, aber wenn es kälter wird, muss ich frieren oder so viele Lagen tragen, dass ich als Michelin-Männchen durchgehe. Ich habe dann mal nach Mänteln recherchiert: ich wollte "was gscheits," also Wolle, kein Wollgemisch. Bei meiner Suche musste ich feststellen, dass ich für einen dicken Wollmantel mindestens 400 Euro (eher mehr) ausgeben muss. Und ich habe auch kein Modell gefunden, das mich optisch wirklich überzeugt hat.

Was denkt sich frau mit Nähfähigkeiten also? Boah, ein Mantel wäre echt viel Arbeit und billig wird das auch nicht. Aber ich kann ja trotzdem spaßeshalber mal Schnittmuster recherchieren.

Die Schnittmusterrecherche war auch recht zeitintensiv, aber beim amerikanischen Anbieter McCall's bin ich dann fündig geworden:

Das Schnittmuster ist ein Nachdruck eines Schnittes von 1956
Das Schnittmuster hat im Sonderangebot nur knapp 3 Dollar gekostet, dazu kamen 25 Dollar Versandkosten (aus den USA), aber dann habe ich mir gleich noch ein paar andere Nachdrucke von 50er Jahre Schnittmustern mitbestellt.

Als das Schnittmuster feststand habe ich mir Unmengen an Stoffproben zuschicken lassen. In Tübingen gibt es vier Stoffgeschäfte, Wollmantelstoffe in einem davon, und da hätte ich locker 60-80 Euro pro Meter liegen lassen können. Das Schnittmuster verlangt aufgrund des weiten Rockes knapp über 5 Meter Stoff; das wäre mir erheblich zu teuer geworden... Also im Internet bestellen, aber ohne Stoffprobe gebe ich nicht über 100 Euro für den Mantelstoff aus.


 


Hinzu kamen dann ja auch noch das Zwischenfutter und das Futter. Das Zwischenfutter sollte aus Watteline sein. Watteline ist eine Art Netzstoff mit Wollflausch. Aber an Watteline ohne Kunstfaseranteil zu kommen ist gar nicht so einfach. Ich habe den Hersteller Ganzert Wattelinfarbik angeschrieben und dort tatsächlich eine Art "Reststück" von 8 Metern Länge bekommen (für den gleichen Preis, den 4 Meter davon in einem Online-Shop gekostet hätten). Und beim Futter habe ich auch lange gegrübelt: Viskose oder Seide (Kunstfaser fällt raus, weil der Rest ja schöne warme Naturfaser ist)? Bis mir eingefallen ist, dass ich ja kürzlich erst eine kleine Sammlung Seidenstoffe geerbt habe. Und da war tatsächlich ein Stoff dabei, der gerade so ausreichend war für das Schnittmuster, und auch noch perfekt zum royalblauen Wollstoff, für den ich mich inzwischen entschieden hatte, gepasst hat. Also vielen Dank Renate, dass du an mich gedacht hast, als du die Seidenstoffe gesehen hast!

Thaiseide ist ein bisschen dicker und gröber als andere Seide, aber
das macht diesen Stoff perfekt als Futter für einen Wintermantel.
Da ich allerdings meine ersten Erfahrungen mit einem gefütterten Teil aus dickem Wollstoff  nicht mit diesem Mantel und seinen hochwertigen Komponenten machen wollte, habe ich beschlossen, ein grob ähnliches Probestück anzufertigen. Ich hatte gerade genug eines Wollstoffes da, um dieses Cape aus einem Burda Heft zu nähen:

Schnitt 104 aus Burda Style 12/2016
Der Schnitt ist natürlich vollkommen anders als beim Wintermantel, aber die Verarbeitung eines dicken Wollstoffs sowie das Futter einnähen waren gute Übungen.

Mein erstes größeres Nähprojekt mit Katzen im Haus - das war auch für die beiden ganz spannend :)

Vom Rattern der Nähmaschine haben sie sich nicht erschrecken lassen

Das Futter am Saum festnähen ist sehr zeitintensiv, da es von Hand geschieht
Für das Cape habe ich nicht lange gebraucht (etwas mehr als ein Wochenende), aber es hat mir schon deutlich gemacht, wie krank es eigentlich ist, dass man für 200 Euro Mäntel kaufen kann. An einem gefütterten Mantel (oder auch anderen gefütterten Teilen) gibt es einiges, was von Hand genäht werden muss. Wie unfassbar schlecht bezahlt muss diese Arbeit sein, dass ein Mantel inklusive Mehrwertsteuer, Einzelhandelskosten (Miete, Personal, etc.), Zwischenhändler*innen, Transport etc. so billig sein kann?! Wenn man deutsche Löhne an Nähende zahlen würde, müsste man sich einen Mantel für's Leben kaufen. Wieso müssen wir uns jeden Winter einen neuen Mantel kaufen (können)? Unsere Kaufkultur/kapitalistische Mentalität ist mir völlig unverständlich (auch wenn sie natürlich eine (menschenverachtende) Logik in sich hat)... Aber das sei nur nebenbei bemerkt...

Das fertige Cape
mit Kapuze!
Da ich mit dem Cape keine Tasche tragen kann,
ist es wohl nur etwas für Sonntagsspaziergänge...

Nun hatte ich also ein paar der wichtigen Handgriffe geübt und konnte mich an das richtige Schnittmuster wagen. Aber natürlich noch nicht mit dem guten Wollstoff, sondern mit einfacher Baumwolle, um einen Probemantel zu nähen. Ein Probestück vom Schnittmuster zu nähen ist sehr wichtig, damit man Probleme bemerkt, bevor man den "guten" Stoff unwiederbringlich zerschnitten hat. Normalerweise sollte das Probestück aus einem ähnlichen Stoff sein wie das fertige Stück, aber zum einen habe ich keine 5 Meter Reservewollstoff und zum anderen muss ein Mantel ja nicht absolut perfekt sitzen (frau hat ja mal mehr und mal weniger dicke Lagen unter ihrem Mantel an).

Probemantel aus Baumwolle
Währen der Probemantel in Arbeit war, habe ich die Stoffe für den richten Mantel vorgewaschen. Ein Mantel wird zwar voraussichtlich nicht oft gewaschen, aber im Zweifelsfall sollte er dann nicht einlaufen...

4,5 Meter Seide werden vorsichtig
in der Badewanne gewaschen
Nasse Seide ist erheblich kompakter als trockene
Seide. Und das Waschwasser ist blau geworden...


Nach dem Waschen muss die Seide gebügelt werden (ohne Dampf, während sie noch leicht feucht ist!) 
Nun ja, die Seide habe ich gewaschen. Beim Wollstoff war ich ungeduldig, da der Probemantel ja fertig war und gut saß. Also habe ich die Wolle mit viel Dampf und Hitze gebügelt. So hatte auch die Wolle Gelegenheit, bei Bedarf etwas zu schrumpfen.

6 Meter Wollstoff mit Volldampf bügeln - da friert frau
 auch im Winter in einem schlecht isolierten Haus nicht :)
Nun konnte ich endlich den Stoff zuschneiden. Bis hierhin war es schon ein ziemlich weiter Weg, aber jetzt ging es ja eigentlich erst so richtig los.

Im Wohnzimmer hatte ich einigermaßen
Platz, um den Stoff auszulegen
Wattelinezuschnitt



Schnittmuster animieren anscheinend zum Spielen
Bei der Seide habe ich die Katzen aber dann aus
dem Wohnzimmer verbannt, damit keine Krallen
versehentlich den Stoff zerstören...


Nach dem Zuschnitt mussten die Wattelineteile auf die identischen Wollteile geheftet (locker angenäht) werden. Von Hand natürlich.

rückwärtige Mitte links
vorderes Seitenteil

Harry hat mir ein Geschenk ins Wohnzimmer
gebracht, als ich am Nähen war...

Danach konnte ich den äußeren Mantel nähen. Also viel Nähen, Bügeln, Nähen, Bügeln. Und vorher wollen die meisten Nähte natürlich von Hand geheftet werden, damit nachher beim maschinellen Nähen nichts verrutscht. Also eigentlich: Handnähen, Maschinennähen, Handnaht entfernen, Bügeln, Handnähen, Maschinennähen, Handnaht entfernen, Bügeln, etc. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen.

Dicke Schichten Textil machen der guten alten Pfaff 1212 keine Probleme

Beim Ärmelaufschlag hatte ich ein kleines Problem, da der viel zu dick geworden ist. Also habe ich den Ärmel nochmal aufgetrennt, am Ärmelaufschlag die Watteline entfernt, wieder zusammengeheftet, wieder zusammen genäht und dann den Ärmelaufschlag hinbekommen, ohne dass er die Blutzufuhr zu meinen Händen abklemmt.

Das Grundgerüst des Mantels ist fertig!
Nachdem der "Außenmantel" fertig war, durfte ich den Mantel ein zweites Mal aus dem Futterstoff nähen.

Auch Bügelbretter müssen auf Komfort überprüft werden...
Bevor beide Mäntel dann zu einem zusammen genäht wurden, brauchte ich noch Schulterpolster. Die habe ich kurzerhand auch selbst von Hand aus Filz und Watteline genäht. Und dann wird alles zusammengefügt. Von Hand natürlich.

Handgenähtes Schulterpolster aus Wollfilz und Watteline

An der Schulter wird das Futter
mit einem Fadensteg befestigt
In die Achsel kommt auch ein Fadensteg

Der Berg Textil, der an der Nähmaschine hängt, wird immer größer

Fast fertig!
Dann war noch der Saum dran, der eine stattliche Länge von 4 Metern aufweist. Erst von Hand das "horsehair braid" (Rosshaarzopf, heutzutage nur aus Kunststoff erhältlich) einnähen, und dann das Futter annähen.

Erst wird der Saum auf eine Länge umgebügelt
Erst dann kann das "horsehair braid"
angenäht werden



















Als Aufhänger habe ich ein Kettchen im Kragen befestigt. Fertige Mantelaufhänger haben mir nicht gefallen, also habe ich mich von anderen bloggenden (Hobby-)Schneiderinnen inspirieren lassen und gebastelt.

Aufhängekettchen und "Handmade" Knopf 
Nun stand ich vor der Qual der Wahl bezüglich Knöpfe. Ich war davon ausgegangen, dass ich in meiner fast schon ausufernden Knopfsammlung sicher fündig werden würde. Leider fand ich dann doch keine passenden vier Knöpfe, also habe ich erst im Einzelhandel und dann im Internet gesucht, und diverse Knöpfe bestellt. Es waren ein paar dabei, die durchaus funktioniert hätten, aber so richtig überzeugt haben sie mich nicht. Also habe ich nochmal in einer Knopfdose gestöbert, die ich noch nicht sinnvoll in meine Knopfsammlung einsortiert hatte, und bin tatsächlich doch noch fündig geworden.

Gefärbte und geschnitzte
Knöpfe aus Taguanuss
Stylische Knöpfe,
leider aus Plastik
Metallene Punkteknöpfe















Nun konnte ich also noch die Knopflöcher (von Hand) nähen, nachdem ich ein Probeknopfloch auf einem Reststück genäht hatte zur Übung. Dann noch die Knöpfe annähen, und so war ich nach nur zwei Monaten fertig mit meinem eigenen Mantel!

Etwas Farbe für den Winter
Und innen ist noch mehr Farbe!
Fazit: das ist jetzt hoffentlich ein Mantel fürs Leben! Meine vorsichtige Schätzung war, dass in dem Mantel 80 Arbeitsstunden stecken, wobei das ab dem Zuschnitt des Wollstoffs gerechnet ist und vermutlich immer noch nicht genug ist. Hinzu kommen etwa 250 Euro Materialkosten (ohne das Seidenfutter, denn die Seide hat mich ja nichts gekostet). Bei einem geringen Stundenlohn plus Mehrwertsteuer wären wir also locker bei 2000 Euro, wenn man diesen Mantel käuflich erwerben wollte...

Der Mantel hält was er verspricht: bei meinem Geburtstagswochenende in Warschau haben meine Freundinnen gefroren, aber mich hat mein Mantel schön warm gehalten. Aber bei den aktuellen Frühlingstemperaturen ist er zu warm. Daher bin ich gar nicht traurig, dass es nächste Woche wieder Minusgrade geben soll, denn dann kann ich meinen Mantel wieder tragen...


Kommentare